Von Gefühlsachterbahnen & dem Wert der Beständigkeit

Der deutsche Gastronom hat immer noch Angst vor dem Gast.

-Thomas A. Imbusch-

Ihr beleidigt uns nicht, oder doch? Beleidigt wurden wir zwar faktisch schon in den vergangenen Tagen und das reichte von Wünschen der Insolvenz bis zum Verhungern unserer Kinder. Die Verwünschungen und Beschimpfungen erreichten uns im Social Web und per Mail, es war ein Ton, der sich in einer zivilisierten Gesellschaft verbieten sollte. Aber wirkliche Beleidigungen sind es nicht. Denn weder Sophie und Thomas, noch das großartige Team des 100/200 oder die wundervollen Gäste können so etwas ernst nehmen.

Was ist passiert?

Für all jene, die uns noch nicht kennen: Das 100/200 ist ein Restaurant in Hamburg, ausgezeichnet mit 2 Sternen im Guide Michelin und einem grünen für Nachhaltigkeit sowie 3 schwarzen Hauben im Gault Millau. Bei uns gibt es vier saisonal wechselnde Menüs im Jahr. Welche Gerichte sie genau bekommen, wissen Gäste aber nicht, wenn sie vorab bei uns buchen und auch direkt bezahlen.  

 In der „Hamburger Morgenpost“ erschien am 9. Oktober 2023  ein Artikel mit der Überschrift: „35 Euro! Wer in diesem Sterne-Restaurant essen will, muss schon vorher zahlen!“. Versteckt ist er hinter einer Bezahlschranke, so dass für die allermeisten Leserinnen und Leser nur die reißerische Schlagzeile zu sehen ist. Seitdem ruhen bei uns weder Telefon noch Mail-Postfach.

 Und nimmt das 100/200 nun Eintritt?

Nein.

 

Seit Mai diesen Jahres können Gäste bei uns auch spontan vorbeikommen. Dann bekommen sie aber nicht das Menü, sondern können einzelne Gerichte von einer separaten Speisekarte bestellen. Diese Karte ist klein und folgt stringent einer der Überzeugungen des 100/200: Wir verschwenden keine Lebensmittel. Das durchzuhalten ist nicht einfach, aber es ist möglich.

 

Nur Gäste, die sich für diese Á-la-carte-Variante entscheiden, zahlen eine Gedeckpauschale von 35,00€. Dafür erhalten sie Sauerteigbrot, Joghurtbutter und Wasser – und zwar so viel, wie sie möchten und manch ein Gast der schon bei uns war sagt, allein dafür lohnt sich schon eine Reise.

 

Die meisten dürften das bestens aus dem Urlaub kennen: In Spanien oder Frankreich sind Gedeckpauschalen Alltag, in den USA oder Großbritannien werden „Service Fees“ auf den Gesamtbetrag der Rechnung aufgeschlagen.

Sprich: Die 35€ sind kein Eintrittsgeld, sondern Gegenwert für Lebensmittel und Service.

Wieso erhebt ein Restaurant eine Gedeckpauschale?

 

Bei der Frage nach dem „Warum?“ wird es kompliziert. Jeder Erklärungsansatz birgt in sich weitere Fragen und die führen zu Themen wie Wertschätzung, Ernährung, Lebensentwürfen und Gesellschaftsmodellen. Am Ende steht die größte aller Fragen: Wie wollen wir künftig miteinander leben?

 

Hier also unsere ganz subjektive Sicht auf die Gastronomie in Deutschland...

 

Freiwilligkeit

Niemand ist gezwungen in seiner Freizeit außer Haus zu essen und zu trinken. Niemand. Ehrlich. Das ist keine Verpflichtung. Gastronomie ist nicht Schulbildung, ist nicht sauberes Wasser, ist nicht Gesundheitswesen oder öffentlicher Nahverkehr. Deshalb ist auch niemand gezwungen, im „100/200“ zu essen.

 

Was Gastronomie aber ist: Ein Ort, an dem unterschiedliche Menschen zusammenkommen – und davon haben wir leider nicht mehr sehr viele. Gastronomie schafft Momente die unsere Köpfe frei machen, uns für ein paar Stunden entführen von persönlichen Sorgen oder den Krisen in der Welt. Als Gast gönnt man sich den Luxus, nicht selber Einkaufslisten zu schreiben, Lebensmittel einzukaufen, sie zuzubereiten und anschließend zu spülen.

 

So betrachtet, gibt es keinen Grund, sich derart über Angebote oder Preise in der Gastronomie zu erzürnen. Man muss nicht Gast sein. Wenn man das aber sein möchte, hat man nahezu unendliche Möglichkeit nach eigenem Interesse und finanzieller Bereitschaft und Möglichkeit einen passenden Ort für sich zu suchen und zu finden.

 

Grundrespekt

Es gibt auch keinen Grund fallen zu lassen, ohne was eine Gesellschaft nicht funktionieren kann: Respekt voreinander. Natürlich ist die Definition von Respekt immer subjektiv. Doch erlauben wir uns die Frage: Warum greift man zu einer Beleidigung, wenn man selber keinen persönlichen Schaden nimmt, niemand benachteiligt oder verletzt wird, und man guten Gewissens ignorieren kann, was einem nicht gefällt, ohne das es eine Konsequenz für einen selbst hat?

 

 

Wert und Preis

Restaurants sind Unternehmen. Sie werden geführt von Gründerinnen und Gründern, die ihr ganzes Herzblut in ihre Lokale stecken. Und sie beschäftigen dort Menschen, beim 100/200 arbeiten zum Beispiel XXX Personen, von XXX, dem Spüler bis XXX, unserer Buchhalterin. Um sie zu bezahlen muss das Unternehmen 100/200 – so wie jedes andere Unternehmen – profitabel sein. Denn neben den laufenden Kosten brauchen wir Rücklagen für schlechte Tage oder für Investitionen. Wenn morgen die Kühlung den Geist aufgibt brauchen wir eine neue. Und einmal die Ware neu. Manches ist dann unwiederbringlich verloren. Ebenso die Arbeit die bereits hineingeflogenes ist. Auch das muss mit einkalkuliert werden.

 

Wie aber entstehen Preise?

 

Zunächst entwickeln sie sich im Kopf und im Computer der Gastronomen. Sie versuchen Kosten in Einklang zu bringen mit dem Wert, den die Zeit im Restaurant für die Gäste hat. Das ist eine schwere Aufgabe, an der leider viele scheitern.

 

Die Gastronomie hat ihre Preise in den vergangenen Jahren extrem verzerrt und das in beide Richtungen. Es wurde quersubventioniert, Verlust gemacht, Gastronominnen und Gastronomen haben sich und oft die eigenen Gäste verarscht.  Man denke nur an die Preisunterschiede von Lieblingsbestellungen wie Aperol Spritz, Bier oder Bratwurst: Je näher das Wasser, je schöner die Aussicht, je besser das Wetter – desto höher der Preis. Das ist kein An-den-Pranger-Stellen und Jammern sondern der Beleg dafür, dass der Preis durch wesentlich mehr entsteht, als bloße Kostenkalkulation. Genauso entscheidend ist die Bereitschaft des Gastes an einem besonderen Ort ein besonderes Erlebnis zu haben. Das zu berücksichtigen, ist gutes Unternehmertum: Denn die Sonnenterrasse, die bei 25 Grad rappelvoll ist, ist bei Nieselregen und grauem Himmel leergefegt.

 

Der Wareneinsatz

Fleisch, Gemüse, Kräuter – all das muss gekauft werden. Klingt zunächst einfach. Wer aber nicht mit dem Großhandel arbeitet um kleine Erzeuger zu unterstützen, betreibt einen immensen Aufwand und  muss flexibler sein. Denn kleine Erzeuger können eben nicht garantieren, dass die gewünschten Produkte zur gewünschten Zeit in der gewünschten Menge verfügbar sind. Das alles kostet Zeit und Zeit ist Geld. Aber der Qualitätsunterschied ist schmeck- und erlebbar.

 

Das Personal

Die Mitarbeiterinnen des 100/200 bekommen keine Managergehälter. Aber sie können von ihrem Beruf gut leben und wir geben ihnen Gehalterhöhungen, wann immerwir es uns leisten können. Wir arbeiten außerdem in einem Schichtsystem, dass ihnen ermöglicht, ihre persönlichen Vorlieben auszuleben und das auch für eine rechtskonforme Arbeitszeit, die noch ausreichend Raum für Privatleben lässt. Wer Serien wie „The Bear“ oder „Chefs Table“ sieht weiß, dass dies nicht überall so ist.

 

Außerdem schulen wir sie selbst: Das 100/200 hat eine Akademie gegründet, in der wir eine weitergehende, fachliche wie soziale Vermittlung der Gastronomie betreiben. Jedes Mitglied unseres Teams kann alle Grundnahrungsmittel kostenlos über uns beziehen, Arbeitskleidung wird gestellt, in jeder Saison können unsere Kolleginnen und Kollegen einmal als Gast bei uns essen. Nur um ein paar Dinge zu nennen die man finanzieren muss wenn man ein echtes Team aufbauen will.

 

All dies muss sich auch in den Preisen widerspiegeln. Wer als Gast eine gute und zukunftsfähige Gastronomie haben möchte, muss dem Satz „Wir brauchen faire Löhne“ auch Taten folgen lassen. Dazu gehört zum Beispiel unsere Gedeckpauschale. Sicher könnten wir diese mit einkalkulieren. Dann hätte sich sicher niemand der Art daran gestört. Allerdings ist es auch eine Art von Wertschätzung und Ehrlichkeit diesen Kostenpunkt einzeln auszuweisen um eine Sensibilität dafür erzeugen was diese Lebensmittel, das Handwerk und der Service einem Wert sein müssen.

 

 Der Arbeitsaufwand

Von Systemgastronomie bis Sternerestaurant – der Arbeitsaufwand in der Gastronomie unterscheidet sich extrem. Im 100/200 gibt es echte Lebensmittel und echtes Handwerk, die sich auf dem Teller verbinden mit eigenen Ideen, die auf zahlreichen gescheiterten Experimenten beruhen. Dafür benötigt man höchstausgebildetes, motiviertes Personal, lange Vorbereitungszeiten und langfristige Beziehungen zu Erzeugern und Lieferanten. Das alles summiert sich im Faktor Zeit und der ist, wie geschrieben, Geld. Bei Interesse kann man gerne mal auf YouTube die alten Lehrunterweisung für die Berufsschule Hamburg schauen um einen Eindruck zu bekommen, was das bedeutet. Diese Unterschiede schmeckt und spürt man.

 

Die Expertise

Im 100/200 treffen Sie, wie in vielen, wenn auch nicht allen Restaurants, auf Gastgeber aus Leidenschaft. Gastronominnen und Gastronomen mit Herz betreiben jeden Tag Hochleistungssport – körperlich und emotional. Sie machen aus einem guten Abend einen unvergesslichen, und aus einem schlechten einen guten. Sie können einzigartige Geschmacksbilder und -Kompositionen kreieren. Sie können etwas, das weder ein Roboter noch oder eine KI beherrscht. Es kann passieren, dass Gäste noch nach Jahren von einem bestimmten Teller oder Moment in der (Sterne)gastronomie schwärmen. Das passiert nicht, wenn in einer Restaurantkette Gerichte aus vorgefertigten Produkten nach immer gleicher Art erwärmt und möglichst effizient auf den Teller geworfen werden.

 

Und auch das kostet Geld, egal ob in der Hochgastronomie oder beim leidenschaftlich geführten Ausflugslokal. Gastronomen schmieren Stullen, rühren Drinks, flambieren am Tisch – gemeinsam haben Sie Ihre Expertise und die muss endlich wieder eine Wertschätzung erfahren.

 

Angesichts dieser Situation finden wir es befremdlich, wenn unser Branchenverband DEHOGA unsere Gedeckpauschale "sportlich und mutig" findet und lapidar ergänzt: "Wir haben ja eine freie Marktwirtschaft."

 

 

Das Ambiente

Die Dinge sind so schön wie man sie sich macht. Es gibt im 100/200 tausend kleine Dinge die den Ort und die Atmosphäre ausmachen, unser Geschirr, unsere Gläser, eine Theke, in der die Gäste die Produkte sehen, die für sie zubereitet werden. Und diese Dinge sind besonders, manche funktionieren einfach, andere sind handgemacht und höchstwertig.

 

Das ist auch nötig. Denn Gebrauchsgegenstände in der Gastronomie sind einer Höchstbelastung ausgesetzt. Ihre Qualität entscheidet über Ihre Langlebigkeit und damit die Nachhaltigkeit. Damit sind sie aber auch teurer in der Anschaffung.

 

Jedes Detail in einem Restaurant mit Leidenschaft strotzt vor Liebe. Selbst über das Geräusch, das ein Teller beim Aufsetzen auf dem Tisch macht, machen wir uns Gedanken. Und die Gäste? Merken das.

 

Es lohnt sich, die kleinen Dinge groß zu machen, denn so entsteht dieses besondere Erlebnis, das uns entführt aus den Sorgen des Alltags.

 

Die Zukunft

Gastronomie hat in Deutschland keinen großen Stellenwert. Man schämt sich ein wenig für die Liebe zum Genuss. Der Rausch gehört nicht ins Kulinarische, sondern ins Stadion, ins Auto, in… was auch immer.

 

Für das 100/200 gehört er zum Leben dazu, weil wir Menschen das nun mal ab und zu brauchen. Ohne Orte, an denen wir gepflegt genießen bis eskalieren, sieht die Zukunft unserer Gesellschaft düster aus. Wir werden immer weiter auseinander driften und unseren Rausch in den Kommentarspalten ausleben.

 

Um diese Orte zu erhalten oder neue schaffen, brauchen wir neue Menschen, neue Ausbildungen und viel Leidenschaft. Im 100/200 wurde dafür eine Akademie gegründet. Andere Betriebe opfern viel Zeit in die Auseinandersetzung mit Berufsschulen, Handelskammern und der DEHOGA.

 

All das aber kostet Geld, zum Beispiel in Form einer Gedeckpauschale, wenn man sich kein Menü leisten möchte oder leisten kann.

 

Und deshalb haben wir eine Bitte: Gehen Sie nicht an herz- und seelenlose Orte um zu essen. Suchen Sie die Kleinode von Gastronominnen und Gastronomen mit Leidenschaft. Und wenn Sie das nicht wertschätzen können, ist das vollkommen OK. Aber bitte sparen Sie sich dann auch Urteile über Menschen, die anderen mit ihrem Tun Momente bereiten, die im Gedächtnis bleiben und gleichzeitig Menschen einen Arbeitsplatz mit fairer Bezahlung geben.

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